Ein anderer Weißraum.

Vortrag von Kurt Höretzeder, Gründer und Vorstand von WEI SRAUM auf der Typo St. Gallen 2013, 21.09.2013

Ich möchte hier, passend zum Thema des Symposiums, natürlich auch über einen Weißraum erzählen — aber nicht über den Weißraum, sondern über einen Weißraum. Einen anderen Weißraum. — Einen, der nichts mit den unbedruckten Teilen einer Fläche zu tun hat und auch nichts mit den Räumen zwischen oder innerhalb der Buchstaben.

Der aber zugleich natürlich alles mit den unbedruckten Teilen einer Fläche zu tun hat und mit den Räumen zwischen oder innerhalb der Buchstaben, nur eben anders. Dieser Weißraum ist eher eine Idee, ein Projekt. Es lässt sich als grafisches Projekt ebenso verstehen wie auch als im weitesten Sinn soziales, was da gerade in Innsbruck — und ein wenig darüber hinaus — im Entstehen begriffen ist. Es hat da und dort schon erste Spuren hinterlassen. — Und zugleich natürlich so gut wie keine. Dieser Weißraum ist da, sichtbar und spürbar. Und zugleich ist er nicht da. — Wie beim »richtigen« Weißraum auch.

Begonnen hat alles mit einem kleinen Büchlein irgendwann in den späten 1980er Jahren. Es lag im Vorraum zur Dunkelkammer einer Druckerei auf einem Stapel Bücher und Zeitschriften.

Ich habe es einmal kurz durchgeblättert und dann wieder zurückgelegt, ehe ich wieder für Stunden hinter der Reprokamera und also im Reich der Dunkelheit verschwand (oder besser: verschwinden musste). — Monate später hatte ich den Stapel zu durchforsten und Nützliches von Unnützlichem zu trennen. Da das angesprochene Buch mittlerweile vom weiter wachsenden Stapel verschluckt wurde und sich offensichtlich niemand dafür interessierte, entschied ich, dass dieses Büchlein für die Druckerei offenkundig keinen Wert hat. So fand es zu mir.

Aufmerksam gelesen habe ich es selbst dann erst später, auch den Satz: »Auf jeder Drucksache wirkt die bedruckte mit der unbedruckten Fläche zusammen«. — Um ehrlich zu sein, viel vorstellen konnte ich mir nicht darunter. Was soll da schon groß »zusammenwirken«? — Aber, und das ist vielleicht noch wichtiger: Vergessen habe ich diesen Satz auch nicht. Immer wieder kam er mir in den Sinn, an unterschiedlichster Stelle: vor dem sprichwörtlichen leeren Papier, das auf der Suche nach einem gedanklichen Ansatz, einer Idee, vor einem liegt.

Auch kam mir dieser Satz in den Sinn bei einem leider viel zu kleinen Inserat mit viel zu viel Text, wo nach vollendeter Reinzeichnung (natürlich im Klebeumbruch) nun auch noch ein weiterer, unglaublich wichtiger Hinweis untergebracht werden musste. — Nur, wo?

Beide Fälle markieren extreme Punkte: hier der Weißraum als leeres Blatt Papier, für einen Gestalter sozusagen der existenziell empfundene, gestalterische Möglichkeitsraum für seine Tätigkeit; und dort der Weißraum als Überbleibsel, als Restfläche, die der schwer zu sättigende Auftraggeber natürlich nicht ungenutzt sehen will. –

Irgendwo dazwischen beginnt wohl das, was man »visuelle Gestaltung« nennt. Und ohne dass ich je einen bestimmten Moment in Erinnerung hätte, formte sich mit der Zeit doch eine Vorstellung von dem, was dieser Satz »Auf jeder Drucksache wirkt die bedruckte mit der unbedruckten Fläche zusammen« meinen könnte. Das Wort »Weißraum« kommt in dem kleinen Buch, wenn ich mich nicht täusche, nicht vor. Ist aber doch an vielen Stellen präsent.

***

Szenenwechsel. Architekturforum Tirol in Innsbruck, 22. November 2006, 19 Uhr. Seit Anfang 2005 finden dort in mehr oder weniger loser Folge Vorträge zum Thema zeitgemäßer visueller Gestaltung statt — mit einem gewissen Schwerpunkt auf Typografie. Das alles verdankt sich im Wesentlichen einer privaten Initiative, deren Ziel es ist, diesem Zweig angewandter Gestaltung auch in Innsbruck — eine Stadt, für die unlängst das Wort »Alpenmetropole« erfunden wurde — zu mehr öffentlicher Wahrnehmung zu verhelfen.

In anderen Teilen der Welt mag so ein Ansinnen alltäglich sein — in Innsbruck ist es das nicht. Grafik-Design und visuelle Gestaltung fallen dort unter die Rubrik »Werbung« (und deswegen heißt eine der beiden Ausbildungsstätten folgerichtig auch genau so: »Werbe-Design-Akademie«).

Der grafische Alltag in Tirol ist in wesentlichen Teilen wohl derselbe wie anderswo auch. Mehr oder weniger aufregend, mehr oder weniger langweilig, mehr oder weniger anspruchsvoll, mehr oder weniger Geschäft. — Wobei die Betonung in allen Fällen eher auf weniger liegt. Gefühlt liegt das Niveau der »grafischen Szene« — Ausnahmen bestätigen die Regel — etwas unter dem österreichischen und — schon spürbar deutlicher — unter dem Schnitt anderer Länder, ganz zu schweigen von diesem Land, der Schweiz, mit seinen traditionsreichen Schulen, bedeutenden Gestalterpersönlichkeiten und hervorragenden Büros.

»Visuelle Gestaltung« — wenn man diesen Begriff in Innsbruck etwa auf der Suche nach öffentlichen Geldern erwähnt, dann ist die Reaktion vorhersehbar: »Ah, interessant!« — Man darf diese Floskel, die im Kunst- und Kulturbereich immer dann gerne verwendet wird, wenn man mit etwas überhaupt nichts anzufangen weiß, nicht allzu persönlich nehmen. Man sollte sie in diesem Fall sogar wortwörtlich nehmen und sagen: »Schön, dass sie das interessant finden!« — Nur, was sagt man dann? — Natürlich könnte man erwähnen, dass sich dahinter viel versteckt: Buch-, Zeitungs- und Magazingestaltung zum Beispiel, Informationsdesign, Mediendesign, Illustrationen, Plakatgestaltung, Ausstellungsgrafik, Leitsysteme, Corporate-Design, Type-Design, Motion Graphics und dergleichen mehr. — Aber, ist diese Aufzählung unserer Arbeitsgebiete wirklich eine Antwort? Wir wollen doch als wichtiger Teil einer Gegenwartskultur wahrgenommen werden, und für so ein Selbstverständnis ist eine bloße Aufzählung doch etwas wenig …

Also, was ist das eigentlich genau, »visuelle Gestaltung« oder »visuelle Kommunikation«? — Diese Frage stellten wir uns auch, an diesem besagten Tag im November 2006. Wir luden ein paar Leute in das Innsbrucker Architekturforum »aut«, das uns Grafik-Designer von Anfang an unterstützte — räumlich, praktisch, ideell (nebenbei bemerkt: Die auch in dieser Unterstützung erkennbare, prinzipielle Offenheit ist etwas, was mich an der Architektur fasziniert). Und da saßen wir dann, diskutierten einige Stunden, träumten, machten einander Mut. Das Treffen war gut, in Gruppen träumt man ja gerne und unbeschwert — auch deshalb, weil man danach gutgelaunt auseinandergeht und dabei inständig jeder darauf hofft, dass jemand anderer diese schönen Träume dann schon umsetzen würde …

Es wurden einige Stichworte auf einem damals noch üblichen Flip-Chart festgehalten. Darauf finden sich auch einige Ideen zum Namen — unter ihnen einer, der — zumindest uns hier — interessieren könnte: WEISSRAUM. Ein paar Monate später dann, im Februar 2007 — die Vereinsstatuten sind ausgearbeitet, die offizielle Vereinsgründung bei der dafür zuständigen Bundespolizeidirektion (sic!) ist »angezeigt« — wird der Name endgültig festgelegt: »WEISSRAUM. Forum für visuelle Gestaltung, Innsbruck«.

Sich in dieser Stadt bei dem Vorhaben, dem Thema visueller Gestaltung zu mehr Öffentlichkeit zu verhelfen, so einen Namen zu geben, ist natürlich ein Wahnsinn. Da versteht sowieso kaum jemand etwas von Grafik-Design und dann gibt man sich auch noch einen Fachterminus zum Namen, mit dem nicht einmal wir aus der sogenannten »einschlägigen Szene« immer etwas anzufangen wissen.

Wir haben also einen Fehler begangen, einen groben, uns nicht »Designworld Tirol«, »Kreativ Tirol« oder so … genannt, was im Land sicher gut angekommen wäre. Wir haben uns den Namen WEISSRAUM gegeben und uns damit das Leben schwer gemacht. — Seltsamer Weise geschah das alles aber durchaus bewusst.

Man kann also sagen, dass die Gründung dieses Forums eine Maßnahme war, um der Frage »Was ist visuelle Kommunikation« im Umweg über einen sonderbaren Namen eine zwar unverständliche, paradoxer Weise damit aber gerade unmissverständliche Antwort zu geben. Wenn man sich so nennt, hat man offenkundig etwas vor, da ist etwas im Busch … Diese Taktik ist vielleicht auch aus den besonderen Umständen des Orts herleitbar, denn: Innsbruck ist, verglichen mit anderen Orten, in Sachen Grafik-Design und visueller Gestaltung wirklich ein sprichwörtlicher Weißraum. Und schließlich kann man die Gründung von WEISSRAUM auch mit der für Tirol gar nicht zu unterschätzenden Gastfreundschaft erklären, die vielleicht auch etwas mit Bequemlichkeit zu tun hat: Warum in der halben Welt herumfahren, wenn man Gestalterinnen und Gestalter auch einladen und so in kleinem Rahmen vielleicht persönlich kennenlernen kann? Schön und nett ist es ja bei uns, irgendwie … Und überhaupt: Was in München mit der TGM seit 1890 (das muss man sich mal vorstellen) funktioniert, das kann aus Prinzip so schlecht nicht sein …

Und so begannen wir ab 2005, also schlanke 115 Jahre nach den Münchnern, auch in Innsbruck mit Vorträgen. Etwa 60 Gestalterinnen und Gestalter luden wir bisher zu uns ein, um Arbeiten, Arbeitsweisen und Analysen aus dem Bereich visueller Kommunikation beispielhaft vorzustellen und zu diskutieren. All das organisierten wir mit Hilfe kleiner, aber verlässlicher öffentlicher Unterstützung, ohne Schule oder Universität im Hintergrund, dafür aber auch frei in jeder Hinsicht. Und mit einem kleinen Team engagierter Leute, die sich nicht aus der Ruhe bringen lassen — und denen an dieser Stelle ausdrücklich gedankt sei.

»Vermittlung« wird das, was WEISSRAUM tut, gemeinhin genannt, aber dahinter steckt doch weitaus mehr: Wissenstransfer; Kommunikationsplattform zwischen Ausbildungsstätten, Schülern, Kreativen, Wirtschaft und Kunden; ja, und in gewisser Weise sind wir auch »Lobbyisten«, also solche, die sich für eine bestimmte Sache einsetzen — in der Öffentlichkeit ebenso wie in Gesprächen vor und hinter den sogenannten Kulissen, bei Geldgebern, Partnern, Interessierten.

WEISSRAUM steht allen offen, großen Agenturen ebenso wie EPU’s. Letztere, die kreativen »EinzelkämpferInnen«, liegen uns besonders am Herzen. Wir glauben nämlich, dass Kreativität bevorzugt an ungeplanten Stellen entsteht. In offenen Räumen und Szenen wächst am ehesten das, was man sich in einem durchwegs positiven Sinn von »Kreativität« im Bereich visueller Kommunikation erwarten darf: Die Suche nach neuen Ausdrucksformen, wie sich der Mensch mithilfe von Schrift, Text, Farbe und Bild und deren mannigfaltig wandelbarer Kombinatorik unterhält.

Mehr haben wir uns bei der Programmgestaltung im Grunde genommen nie gedacht. Kein jährlich wechselndes Generalthema, kein Obermotto, keine Großbotschaft.

***

Diese Lücke: WEISSRAUM. Oft werden wir gefragt, ob da nicht etwas vergessen wurde, oder ob beim Belichten respektive Drucken dieser Buchstabe nicht irgendwoirgendwie «hineingefressen» wurde (so sagt man das bei uns gerne). — Nein, nichts dergleichen. — Diese Lücke ist Absicht, weil wir sie (und also uns, den WEISSRAUM) nicht als Überbleibsel, sondern als freigeräumte und damit offengehaltene Stelle wahrgenommen haben wollen. Dieser WEISSRAUM soll eine Augen- und Denkerholungsstätte sein — so in der Art.

Und das wünschen wir uns noch mehr für die Zukunft. Denn was der Name bisher bloß suggerierte — einen eigenen Raum —, das sollte in den kommenden beiden Jahren Wirklichkeit werden. Der WEISSRAUM wird mit diesem Forum einerseits einen »echten«, »realen« Ort bekommen: Auch im Zeitalter des Virtuellen sitzen Menschen gerne auf Stühlen und hören anderen zu; und andererseits möchten wir versuchen, wenigstens in Ansätzen einem zeitgemäßen Begriff von »visueller Gestaltung« näher zu kommen. Wir wollen vor allem junge, angehende Gestalterinnen und Gestalter vor Ort dafür sensibilisieren, was dieser Begriff — und vor allem: was diese Tätigkeit — vor dem Hintergrund ihrer eigenen lebensweltlichen Umgebung bedeutet. Bedeuten könnte. –

Was wir vorhaben? – Wir werden das gesamte Jahr über Vorträge und Exkursionen anbieten — so wie bisher, nur deutlich mehr; wir werden (endlich) qualitativ hochstehende Angebote für die berufsbegleitende Aus- und Weiterbildung im Bereich visueller Kommunikation und Kreativität anbieten und dabei hoffen, dass daraus irgendwann einmal eine Schule für Gestaltung wird, über die man sich freuen kann; wir werden versuchen einen Raum für Designforschung zu etablieren, der sich grundlegenden Fragestellungen von hoher regionaler Relevanz widmet und der diese in Form von Ausstellungen, Studien und Projekten der Öffentlichkeit zur Diskussion stellt; wir werden eine öffentlich zugängliche Biblio- und Mediathek einrichten als eine Art Vorstufe zu einem Studienzentrum; und wir werden Arbeitsräume anbieten, die jungen Gestalterinnen und Gestaltern Raum geben, ihre Fähigkeiten in einem inspirierenden und ein wenig geschützten Umfeld zu entwickeln. Das soll eine Art Mischung zwischen Coworking-Space und stipendiengestütztem Atelier sein, welches Studierende aus den Bereichen visueller Kommunikation einen Anreiz bieten soll, um hier in dieser Stadt zu arbeiten. Denn Innsbruck hat, nebenbei erwähnt, ein großes Problem: Viele absolvieren ihre universitäre Ausbildung in Ermangelung entsprechender Angebote vor Ort anderswo und kommen danach auch nicht wieder zurück; ein klassischer »brain-drain«, ein Abfluss an Talenten — oder, wörtlich und eigentlich interessanter übersetzt: ein »Gehirnabfluss«.

Um diese Idee vom eigenen WEISSRAUM zu verwirklichen, sind wir nun seit über einem Jahr unterwegs, um vor allem eines zu tun: Geld aufzustellen. Dazu haben wir uns ein ganzes Arsenal an wunderbaren Überschriften und modischen Begriffen zurechtgeschneidert, um unser Vorhaben — sie erinnern sich noch an das »Ah, interessant!« von zu Beginn — auf allen Bühnen gut darzustellen. Hier eine Auswahl:

  • Der WEISSRAUM dient dazu, »Visuelle Gestaltung als kulturelles Phänomen« darzustellen;
  • Der WEISSRAUM soll einen »neuartigen Arbeits-, Kompetenz- und Reflexionsraum für junge Kreative« schaffen;
  • Der WEISSRAUM soll »visuelle Gestaltung, Design und Kreativität als Standortfaktoren für Tirols Wirtschaft« herausstellen;
  • man sollte diesen WEISSRAUM als »Kreativraum und als Chance für die Stadtentwicklung« begreifen;
  • der WEISSRAUM sollte für »Austausch und Vernetzung im Gestaltungs- und Kreativbereich« sorgen;
  • Der WEISSRAUM dient dazu, »Designforschung als Zukunftsthema« zu begreifen
  • und so weiter und so fort …

… Eigenartig, wie sich der Klang solcher Überschriften, solcher Schlagwörter verändert, je öfter man sie sagt. Je häufiger wir dieses Projekt präsentierten und je erfolgreicher wir in unserem Ansinnen im Grunde genommen auch waren, desto mehr Zweifel kamen ins Spiel. Das geschah natürlich im Verborgenen: Nach außen hin überzeugten wir wohl ein ums andere Mal (wir hatten unser Projekt sicher an die 20–30 Mal vorgestellt); im Inneren aber wussten wir, dass da gerade etwas angepriesen und damit festgelegt wird, was eigentlich noch gar nicht fest-steht, was — ganz im Gegenteil — eher offen bleiben sollte. Als ob man sich im heutigen öffentlichen Diskurs umso weiter von der Sache entfernt, je mehr man davon redet — und es damit zerredet. Man braucht dazu nur etwas Sensibilität, um diesen sprachlichen Überdruss zu spüren.

Botho Strauß, der dann und wann schwermütige, aber immer lesenswerte deutsche Schriftsteller, beschreibt dies in einem anderen Zusammenhang (trotzdem auch hier passend) mit folgenden Worten: »Das Reden erschien ihm zusehends wie das Wirbeln mit dem Staubwedel, das ein Zimmermädchen in der Operette vorführt — es wird dabei nicht einmal wirklich geputzt! / Er wurde Kopfnicker: ich weiß alles, indem ich alle Muster und Etiketten des Wissens kenne, jegliche A r t des Wissens mir vertraut ist … Jedoch aus dem bis zum Überdruss Bekannten sendete die Sprache Klopfzeichen. Irgend etwas regte sich darunter lebendig begraben.«

Mir will vorkommen, als ob auch wir in unserem Bereich mit diesem »Überdruss« zu kämpfen haben: Es ist nicht nur die sogenannte »Unwissenheit« oder das sogenannte »mangelnde Bewusstsein« der Öffentlichkeit, die es schwer machen, die Relevanz »visueller Gestaltung« auf gesellschaftlicher Ebene in Innsbruck (und wahrscheinlich auch anderswo) zu behaupten, sondern das hat natürlich mit uns selber zu tun! Alle hier würden wohl sofort zustimmen, dass uns »visuelle Gestaltung« wichtig sei, aber was diese Wichtigkeit ausmacht, bleibt heute dann eher unbeantwortet. Geredet wird natürlich viel, auch ich rede ja momentan, aber ob dabei auch etwas gesagt wird? –

Ich möchte hier zumindest eine Antwort versuchen, warum das so ist: Weil der grafische Diskurs heute weitgehend von eher oberflächlichen Themen (»die wunderbare Welt der neuen Medien«, »Netzkultur« etc.), von eher nebensächlichen Theorien (etwa Semiotik) und von zwar liebenswürdigen, aber doch auch dann und wann etwas übereifrigen Detailfragen ausgefüllt wird! — Irgend etwas ist da doch vergessen worden, wurde »lebendig begraben«, wie es bei Botho Strauß heißt. — Nur, was?

Wenn man unsere »Klassiker« aufmerksam liest — Morison, Renner, Tschichold und die vielen anderen —, dann kann man heraushören, dass es am Ende nie nur um grafische Fragen alleine ging. Gut lässt sich das im sogenannten »Schriftstreit der Moderne« zwischen Tschichold und Bill demonstrieren. Es ist nicht genug, wenn man darin nur die ästhetische Auseinandersetzung zwischen extrem reduzierten, modernen grafischen Ausdrucksformen (Bill) mit einem wiederbelebten klassischen Formenrepertoire (Tschichold) versteht. Das ist zwar auch ein Thema. Aber nicht — salopp formuliert — die Frage »Welche Grafik ist schöner?«, steht hier zur Debatte, sondern aus einer etwas anderen Leseart heraus, geht es in diesem Streit grundlegend um die Frage: »Welche Grafik ist die für den Menschen bessere?« Es geht also, anders formuliert, nicht um Ästhetik, sondern um Ethik. — Aber warum ist diese Unterscheidung wichtig?

Ästhetische Diskurse sind im Grunde genommen ohne Basis. Sie können sich auf keine endgültigen Wahrheiten oder endgültige Referenzen beziehen, können also nicht »richtig« oder »falsch« in einem grundsätzlichen Sinn sein, wie dies bei anderen Wissensgebieten (vielleicht) der Fall sein kann. George Steiner, einer der wohl bedeutendsten Literaturwissenschafter unserer Zeit, schreibt dazu: «Das Relative […] aller ästhetischen Einschätzungen, aller Werturteile ist dem menschlichen Bewusstsein und der menschlichen Sprache inhärent. Alles kann über alles gesagt werden.»

In diesem relativen, fragilen, vorläufigen, vor allem aber diskursiven Wesenszug ästhetischer Urteile haben alle grafischen Diskussionen ihren Ursprung — und auch ihre unabänderliche Grenze: Genau weil es keine endgültige Bestimmung einer idealen Form gibt, genau weil sich der Gebrauchswert einer Schrift oder eines bestimmten Gestaltungsstils durch kulturelle Modifikationen verändert, und genau weil jede neue kulturelle Entwicklung auch neue, zuvor nicht benötigte Zeichen und Techniken zur Verständigung hervorbringt, gibt es »visuelle Kommunikation«. »Im Entwerfen kommt der Mensch zu sich selbst« — dieser Satz von Otl Aicher bringt den Sinn von Gestaltungsarbeit auf den Punkt.

Die einzelnen Beiträge zu ihrer Geschichte, und das 20. Jahrhundert liefert dazu eindrucksvolle Beispiele, müssen selbstverständlich ein Stück weit der Illusion erliegen, als ob nun ein Endpunkt erreicht wäre, als ob alles Vergangene nichts mehr für die Zukunft taugte. Engagiert vorgetragene Pamphlets brauchen die Beschwörung einer völlig anderen Zeit, um neue ästhetische Vorstellungen als unumgänglich zu behaupten. Es muss also so getan werden, »als ob« es einen letztgültigen ästhetischen Ausdruck gebe, auch wenn man genau weiß, dass das so nicht stimmt. Nicht stimmen kann. Hier zwei besonders auffällige Beispiele, die das ohne weiteren Kommentar illustrieren:

»In der still zurückhaltenden, edel durchgebildeten, aufs tiefste in jeder Bewegung erfühlten Schriftform suchen wir uns und unser Zeitgefühl auszudrücken. Die stolze und doch geschmeidige Linie eines lateinischen Großbuchstabens, die bürgerlich behäbige Sicherheit und Kraft einer Frakturform, die feinen zarten Maßverhältnisse einer zierlichen Brotschrift drücken uns alles aus, was wir auszudrücken vermögen.« — Rudolf Koch (1921)

»Über Typographie lassen sich unzählige Gesetze schreiben. Das wichtigste ist: Mach es niemals so, wie es jemand vor dir gemacht hat. Oder man kann auch sagen: Mach es stets anders, als es die anderen machen.« — Kurt Schwitters (1924)

Beide Aussagen widersprechen einander — und bleiben dennoch, jede auf ihre Weise, richtig in einem Sinn, der sich letztlich nicht klären lässt.

Sie werden sich nun fragen, was das alles mit unserem Innsbrucker WEISSRAUM zu tun hat? — Ich glaube: Sehr viel. Weil: Unsere Aufgabe im Bereich der Vermittlung von Themen, die die zeitgenössische »visuelle Gestaltung« prägen, besteht nicht nur darin, schöne Grafik zu zeigen, bis ins letzte Detail vorzudringen und sich dabei wohlzufühlen. — Das wollen wir natürlich auch, jeder soll Freude empfinden angesichts beispielhafter Arbeiten, egal ob aus dem näheren oder ferneren Umfeld. –

Aber in einem nächsten und meiner Meinung nach fast wichtigeren Schritt geht es auch darum danach zu fragen, ob die heute allseits ausgestellten grafischen Neuerungen und deren behauptete Vorzüge tatsächlich auf Resonanz bei den Menschen stoßen und relevant werden, ob sie eine merkliche Verschiebung von Gewohnheiten bewirken oder ob sich die Menschen als mehr oder weniger resistent gegenüber den vorgeschlagenen Änderungen erweisen. Und diese Relevanz hat, das ist eben der Punkt, nichts mit dem Grafischen selbst zu tun, sondern sie entfaltet sich entlang alltäglicher praktischer Fragen, die mit dem Gebrauch zu tun haben, und entlang gesellschaftlicher, politischer und kultureller Fragen. Letztlich geht es also um eine Klärung: Was trägt »visuelle Gestaltung« zu einem besseren, schöneren Leben bei?

Alain de Botton, ein in London lebender und übrigens in der Schweiz geborener Philosoph und Schriftsteller, ist in seinem wunderbaren Buch »Glück und Architektur« den Entsprechungen zwischen dem Visuellen und Ethischen nachgegangen, und er zitiert darin Stendhal mit seiner Bemerkung: »Schönheit ist eine Verheißung von Glück«. Botton: »Ein architektonisches Werk oder einen Entwurf schön zu nennen heißt, darin eine Darstellung von Werten zu erkennen, die für unser Wohlergehen unabdingbar sind, eine Verkörperung individueller Ideale durch ein stoffliches Medium«. — Das ist es wohl, was die Menschen an Architektur reizt, und das ist es letztlich wohl auch, was sie an visueller Gestaltung interessant finden (könnten …).

Vor zwei Jahren war an dieser Stelle Paulus Dreibholz zu Gast mit seinem »Plädoyer für bewusste Gestaltung«. In seinem gleichnamigen Buch steht zum Beispiel der schöne Satz: »Die eigentliche Gabe des Menschen ist die gesamtheitliche Betrachtung der Dinge«. — Auch das sollte man wortwörtlich verstehen. Otl Aicher hat dieser Form der »gesamtheitlichen Betrachtung« einen anderen Namen gegeben: Er nannte es »visuelles Denken« und versuchte dieses als die eigentliche Art und Weise zu bestimmen, in der der Mensch denkt: »am ende des zeitalters der aufklärung steht die rational ermittelte einsicht, daß das denken nicht nur logisch, sondern sehend ist. […] der mensch ist ein sehendes wesen, das mit dem denken sieht und im sehen denkt. wir müssen die kultur des kalküls um die kultur der anschauung erweitern.«

Es sind nicht unbedingt seine grafischen Arbeiten, die man heute noch toll finden muss. Toll finden kann man — nein: eigentlich muss man! — dagegen Aichers beharrliches Fragen und seine nie nur auf formale, ästhetische Aspekte bezogenen Gedanken, die er gewissermaßen drum herum als Beipacktext formuliert hat. Sie kann man heute noch lesen. Er hat sich im übrigen Zeit seines Lebens auch intensiv mit Glaubensfragen auseinandergesetzt und war einer der wenigen »Philosophen« unter den Gestaltern, die das Ästhetische mit dem Ethischen, das Grafische mit dem Gesellschaftlich-Kulturellen und Politischen zusammenzudenken versuchten.

In der Gegenwart der »visuellen Gestaltung« werden solche Fragen — leider — nicht allzuhäufig gestellt. Mit den Begriffen »Design« und »Kreativität« verbindet man zumeist — zumindest empfinde ich das so — nur eher stereotype Bilder wie cooles Design, tolle Gefühle & gute Stimmung, lässige Menschen, eine irgendwie »gute« und »zeitgeistige« Form der Globalisierung und globalen Kommunikation mit ihrer grenzenlosen Vernetzung, ihren tollen Apps und ach-so-sozialen Netzwerken, denen der Aktienmarkt gerade völlig uneigennützig Milliarden schenkt …

Für mich stehen bei unserem WEISSRAUM, nach all den Jahren darf ich das sagen, weniger grafische Fragen im engeren Sinn im Vordergrund. Die interessieren mich — und wiederum ist die Wendung am Platz: nach all den Jahren — eigentlich nicht mehr so sehr (auch wenn ich sehr genau weiß, was ich grafisch alles immer noch zu lernen habe). — Was mich mehr interessiert ist, was unsere Gesellschaft und Kultur zusammenhält, und was dazu »visuelle Kommunikation« beitragen kann.

Das ist der Grund, warum der Innsbrucker WEISSRAUM eher ein Denkraum werden soll, ein kleines, aus den Bedürfnissen der Stadt und der Region heraus entstehendes Soziotop für Gestalterinnen und Gestalter und alle anderen Leute, die am Phänomen »visuelle Gestaltung« Gefallen finden. — Dieser regionale Bezug soll natürlich nicht falsch verstanden werden als Rückzug ins Biedermeier, in die Privatheit des kleinen Raums und der abgestorbenen Vergangenheit. Das wäre natürlich ganz falsch. Aber zugleich glaube ich, dass es ein wenig arrogant ist zu meinen, dass nur in den Metropolen interessante Dinge entstehen, in den sogenannten »Hot-Spots«. — Auch an kleinen, manchmal eher abgeschiedenen Orten entstehen bewundernswerte Dinge. Erst kürzlich besuchte ich — nebenan im Bregenzerwald — Harry Metzler, einen unserer Kollegen, und ich war beeindruckt, wie engagiert in dieser Region durch baukulturelle und gestalterische Projekte versucht wird, Identitätsfragen in einem recht umfassenden Sinn zu klären. Da finden wirtschaftliche mit gestalterischen Fragen zusammen, handwerkliche mit philosophischen, politische mit Alltagsfragen. (Wer Zeit hat, sollte sich übrigens den vom Schweizer Architekten Peter Zumthor gebaute »Werkraum Bregenzerwald« in Andelsbuch unbedingt anschauen.) — Und was mir am meisten gefallen hat, war die bei Harry Metzler immer wieder kehrende Redewendung, dass er bei dem oder dem Projekt — als sehr guter Gestalter, der er ohne Zweifel ist — »eigentlich« eher »keine Grafik« oder eine »Nix-Grafik« machen wollte. — Solche Dinge gefallen mir.

Der globale Horizont »visueller Gestaltung« ist nicht der einzig relevante. Jeder auch noch so kleine Ort kann zum Schauplatz guter Gestaltung werden. Es gibt viele Beispiele dafür, vor allem auch im Kunst- und Kulturbereich. In Tirol gibt es mittlerweile fast in jedem Tal kleine Musikfestivals, Theater und Kulturinitiativen, und es ist gar nicht selten, dass diese Dinge in der so genannten »Provinz« viel mehr für Gesprächsstoff sorgen als in den Städten, wo es zwar viel mehr Leute, aber auch viel mehr Gleichgültigkeit gibt — selbst dann, wenn man alles »sehr interessant« findet.

Die sogenannte »Provinz« — und als solche kann man auch Innsbruck grafisch betrachten — braucht dringend GestalterInnen und Gestalter, Kreative, die sich dem Wortsinn nach schaffend (creare) in den Lauf der Dinge einmischen. Da wäre so viel zu tun, und fast alle tummeln sich in der Stadt — ich kann das eigentlich nicht verstehen. –

Deshalb geht es, wenn wir jemanden einladen, nicht darum, Rezepte abzuschauen oder gleich auf Haubenniveau ins internationale Kochbusiness einzusteigen, sondern es geht darum, selbst kochen zu lernen. Schritt für Schritt, mit den Zutaten, die vor Ort dafür zur Verfügung stehen — garniert mit jenen Erfahrungen, die anderswo gemacht wurden. Ob das dann im globalen Vergleich gut ist oder nicht, ist nicht so entscheidend. Grafisches Gestalten hat am Ende immer zu allererst mit dem konkreten Ort zu tun, an dem es entsteht und für den es auch gedacht ist.

Auch geht es uns darum, dieser Stadt, Innsbruck, eine Ahnung zu geben von der Geschichte und Gegenwart grafischen Arbeitens in diesem Raum. — Deshalb sind wir gerade dabei, für Ende 2014 die erste Grafik-Design-Ausstellung vorzubereiten, die es in Innsbruck je gegeben hat. Sie wird bei Arthur Zelger ihren Ausgang nehmen, einem der wenigen, den man zumindest ein wenig kennt. Viele im Land kennen seine Tourismusplakate und das Tirol-Logo. — Aber wir wollen das nicht einfach ausstellen, anbeten und sagen: Schaut her wie schön! Wir möchten darüber hinausgehend diskutieren, welche positiven und welche negativen Rollen visuelle Gestaltung bei der rasend schnellen Entwicklung eines Landes hat, das von sich heute gerne voll Stolz behauptet, »Tourismusweltmeister« zu sein, auch wenn man zwischendurch fast vergessen hat, wer man eigentlich selber ist. Wir versuchen zu zeigen, dass nicht nur Wind und Wetter eine Landschaft und seine Menschen formen, sondern auch das Grafische: Was vor 200 Jahren mit akribischen Versuchen einer möglichst genauen Wiedergabe der Natur (des Naturschönen) in der alpinen Landschaftsmalerei begann, setzt sich in der Gegenwart in einer fortschreitenden touristischen Inszenierung des alpinen Raums fort. Es entstehen Klischeebilder, abstrahierte Vorstellungen, Images, die zwar immer »systematischer« und »stratgischer« und damit (werbe)wirksamer werden, die zugleich aber auch immer weniger mit der »Realität«, mit der Lebenswirklichkeit vor Ort zu tun haben! — Das in etwa sind Fragen, mit denen wir uns beschäftigen möchten. Was genau dabei herauskommt, werden wir sehen.

Ob das »neu« ist? — Bei einer Präsentation in Wien vor großer Jury wurden wir gefragt, was denn der »Innovationsgehalt« unseres Projekts, des WEISSRAUMs, sei. Wir haben dort geantwortet, dass wir das selbst nicht so genau wissen und dass das, was daran in Innsbruck möglicherweise »innovativ« sei, anderswo durchaus altbacken wirken könnte.

Aber was heißt schon »neu«? — Das wäre ein weiterer Hinweis darauf, was man unter einem WEISSRAUM als Denkraum verstehen könnte: Ich bin durchaus der Meinung, dass man Wörtern wie »Innovation« oder das »Neue« mit einiger Distanz und Skepsis begegnen soll. Sie sind für mich, bevor man sie in unserer Branche vielleicht in einem positiven Sinn verstehen könnte, heute auch Ausdruck einer übermäßigen wirtschaftlichen Dramatisierung, gegen die man sich eigentlich wehren sollte. — Und ist nicht vieles an der »Kreativität«, die uns jeden Tag in Atem hält, nicht eher einem Wachstums- und Neuigkeitszwang geschuldet, den wir selbst oft mehr erleiden denn als positiven Impuls für die Suche nach besseren Lösungen empfinden (zumindest geht es mir gar nicht selten so).

Um solche Gedanken auch für die Diskussion rund um die »visuelle Kommunikation« fruchtbar werden zu lassen, sollten wir ein wenig seitwärts blicken. Wir könnten zum Beispiel Hartmut Rosa lesen, einen Soziologen aus Deutschland, der uns auf eindrückliche Weise den Zusammenhang zwischen Beschleunigung und Entfremdung in der heutigen spätmodernen Gesellschaft vor Augen führt. — Oder Richard Senett, den US-amerikanischen Soziologen, der den allseits herbeigesehnten »flexiblen Menschen« als Zauberwort des globalen Kapitalismus kenntlich macht, dessen auf Kurzfristigkeit angelegtes Wirtschaften genau dem entgegensteht, wonach der Mensch im Grunde genommen sucht: Freundschaft, Verbindungen, Langfristigkeit, Verlässlichkeit … — Oder der französische Ethnologe Marc Augé, der für sein Buch »Orte- und Nicht-Orte« einen schönen Untertitel formulierte: »Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit«. Er beschreibt darin jene Weltgesellschaft, »die überall ist und in der keiner von uns seinen Ort hat«. Hinter den prächtigen Fassaden der Flughafenterminals, in denen auch wir viel warten, entdeckt er die spätmoderne Obdachlosigkeit des Individuums. –

Das sind nur drei fast willkürlich ausgewählte Beispiele aus einem riesigen Fundus an Gedanken, in dem anders über diese Welt nachgedacht wird. Das ist alles da, liegt vor uns, es braucht dazu nur einiger aufmerksamer gedanklicher Abstecher — in die Soziologie, die Philosophie, Geschichte, auch ein Gedicht kann dabei helfen. Oder ein kluger Satz eines Schriftstellers, wie etwa diesen hier von Peter Handke: »Das Handwerk dient nur dazu, etwas nicht zu tun«.

Ich glaube, und damit komme ich allmählich zum Schluss, wir sollten uns mit solchen Fragen mehr und ernsthafter auseinandersetzen. Ich kann diese Bücher nicht lesen ohne den Beigeschmack, dass es auch wir Gestalter mit unserer oft fast naiven Technik- und Fortschrittsbegeisterung und manchmal ein wenig einseitigen Wahrnehmung von menschlicher Kommunikation sind, die solchen Entwicklungen Vorschub leisten. Und ich möchte ausdrücklich anmerken, dass ich das nicht sage, weil ich das alles für mich persönlich gelöst hätte. — Das genaue Gegenteil ist der Fall: Viele Fragen sind offen und ohne Antwort, zumindest ohne einfache Antwort. Und manchmal empfinde ich fast Scham für das, was ich alles so, 365 Tage im Jahr, tue …

Wobei, irgendwie mag ich das Fehlerhafte, manchmal sogar kollosal Schlechte ja auch. Sie sind, wiederum anders gesehen, auch Zeichen des nur allzu Menschlichen in einer Zeit, in der alles Persönliche in der Anonymität der Systeme verschwindet. Fehler werden in einer zusehens systematischen, digital gesteuerten Welt manchmal zum einzigen geniun menschlichen Signum. Instinktiv mag ich auch das Unvollkommene, das Nicht-so-Perfekte gerne, wenn etwas nicht ganz stimmt, aber trotzdem eine Seele hat, zum Beispiel ältere Bücher. Da ist typografisch meist nicht alles perfekt, man kann es aber durchaus ohne Schwierigkeiten lesen. — Was ich sagen will: An Perfektionismus mangelt es nicht in unserer Welt, an Seele dagegen oft schon.

Walter Benjamin hat dafür einen schönen Begriff gefunden: Er nennt das, was ein Kunstwerk an ästhetischen Empfindungen ausschickt, seine Aura: »Dem Blick wohnt aber eine Erwartung inne, von dem erwidert zu werden, dem er sich schenkt.« In dieser »Erwiderung des Blicks«, die wir in der ästhetischen Empfindung erfahren, ist der Kern des Sehens als eine sozialen Erfahrung gegeben. Und genau das ist es auch, warum »visuelle Gestaltung« so wichtig ist und was wir uns von »guter« Grafik auch erträumen.

»Gute« Grafik kann man wie eine Geste sehen. Vilém Flusser meint in Bezug auf das Malen: «Denn als bedeutungsvolle Bewegung, die sie ist, wird die Geste [des Malens] zwar durch das Aufzählen ihrer Ursachen erschöpfend, aber nicht zufriedenstellend erklärt: sie ist eine ,freie‘ Bewegung. ,Frei‘ eben im Sinn von: erst aus ihrer Bedeutung, ihrer Zukunft, zufriedenstellend erklärbar. Davon muss man also ausgehen: dass es sich hier um eine freie Bewegung handelt, um einen Griff aus der Gegenwart in die Zukunft, eben um eine Geste. […] All dieses aber ist nichts anderes als der Versuch, von der Freiheit zu sprechen. Frei sein heißt eben: Bedeutung haben, sie geben, die Welt verändern, für den anderen da sein, kurz, wirklich leben».

Was Flusser hier für die Geste des Malens beschreibt, lässt sich auch auf die Geste des grafischen Gestaltens übertragen, wobei die Betonung hier auf «für den anderen da sein» liegt, denn der Adressat ist immer der un- bis wenig bekannte Andere, der Leser, der Betrachter.

Kommunikation jenseits der Kategorien von Codierung und Decodierung als visuelle Erfahrung ist ein Denken, eine Verständigung, die in die Zukunft weist: So, wie das Sehen das Umgebende in das Gehirn trägt, entlässt dieses seine Gedanken nach außen: Grafische Entwicklungen, neue Formenspiele als Stimulanzien dafür, was das Gehirn später einmal als «gewöhnlich» empfinden und denken können wird. Es entsteht etwas, das die Gewohnheit entweder eher bestätigt (das muss nichts Schlechtes sein), oder sie bewusst «reizt», sie im Moment vielleicht hinter sich lässt, um später von ihr eingeholt zu werden. — Im »Visuellen Denken« bildet sich die zurückliegende Zeit ebenso ab, wie sich die Zukunft im gerade neu Sichtbaren anzukündigen beginnt. In dieser Ungleichzeitigkeit entsteht das Vermögen, Empfindungen und letztlich auch das Denken durch visuelle Gestaltung zu verändern. Gestalten ist in diesem Sinn immer »utopisch«. Dieser seltsame zeitliche Vorgriff auf neue Empfindungen und Erfahrungen ist es, der das visuelle Gestalten so bedeutsam macht für unser Denken und Leben, und darin liegt auch das gar nicht geringe Maß an Verantwortung begründet, um das es dabei geht. Wir stochern da in einem gewissen Sinn durch die Augen hindurch in die Eingeweide des Denkens: unser Gehirn.

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»Auf jeder Drucksache wirkt die bedruckte mit der unbedruckten Fläche zusammen« — mit diesem Satz, den Jost Hochuli in seinem wunderbaren, 1987 erschienenen Büchlein mit dem Titel »Das Detail in der Typografie« schrieb, hat es begonnen, die Suche nach dem Weißraum und was er bedeuten konnte. Ich wünsche mir für unseren anderen WEISSRAUM, dass sich darin ein »kritisches visuelles Denken« heranbildet, das sich nicht nur für das allerkleinste typografische Detail und die allerneuesten technologischen Errungenschaften begeistert, sondern das der »visuellen Gestaltung« einen »kritischen« Platz in der Mitte der Gesellschaft einräumt.

Es wäre gut, aus einem Gefühl der Negativität, aus einer vielleicht auch ein wenig spürbaren Melancholie heraus den Gedanken anzunehmen, dass »etwas« auch bei uns nicht ganz stimmt und dass es vielleicht »gut sein könnte«, allmählich wieder Begrifflichkeiten von existenzieller Bedeutung in unsere Arbeit einzuschleusen: Verbundenheit, Langsamkeit, Örtlichkeit, Verantwortung, Einfachheit, was weiß ich … Gedanken jedenfalls, die etwas mehr mit der »wirklichen« Welt zu tun haben und etwas weniger mit dem verführerischen Schein der Dinge.

Das wäre es, was diesen WEISSRAUM vielleicht zu einem anderen Weißraum machen würde.

Ich danke ihnen für ihre Aufmerksamkeit.

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