Wenn Schrift zum Seh-Gegenstand wird

Wenn Schrift zum Seh-Gegenstand wird

Eugen Gomringer (CH)

Vom französischen Dichter Rene Char stammt die Frage: »Ohne die Spaltkraft der Poesie, was ist da Wirklichkeit?« — In der »Konkreten Poesie« Eugen Gomringers mit ihren überraschenden Wort- und Schriftbildern erfährt diese Frage eine ganz eigenwillige Antwort, der die Sprache der Literatur (und, wie wir vielleicht sehen werden, auch der visuellen Gestaltung) nachhaltig verändert hat.

Der Schweizer Künstler Eugen Gomringer gilt als Begründer einer neue Spielart der Lyrik: der »Konkreten Poesie«. In ihr wird die Sprache selbst zum »Darsteller«: Es werden nicht mehr nur Sachverhalte, Gedanken oder Stimmungen sprachlich aufgezeichnet und erzählt, sondern die »Form« der Wörter und der Schrift, ihre Materialität und die räumlichen/flächenmäßigen Beziehungen zwischen Zeichen, Wörtern und Sätzen werden zu den bestimmenden Teilen des Gedichts. »Konkret« (vom lat. concretus »dicht, fest«) nennt sich diese von einem erweiterten Verständnis von Poesie getragene Strömung auch deshalb, weil darin Sprache nicht zu trennen ist von ihrer konkreten visuellen (und in anderen Spielarten auch akustischen) Ausdrucksform: »es sind also in den meisten fällen seh-gegenstände, seh-texte, die unter dem überbegriff ›konkrete poesie‹ angeboten werden«, schreibt Gomringer, von 1954 bis 1957 Sekretär von Max Bill an der Hochschule für Gestaltung Ulm, im Einführungstext zu einer 1996 bei Reclam erschienenen Anthologie.  Die Konkrete Poesie entwickelte sich seit den 1950er Jahren (freilich nicht ohne historische Vorläufer, die von Dadaismus/Futurismus über das Barock bis in die Spätantike zurückreichen) zu einer bedeutenden literarisch-künstlerischen Richtung, zu der etwa auch der Innsbrucker Heinz Gappmayr (1925–2010) zählte (den wiederum auch eine enge Freundschaft mit Gomringer verband). Heute ist meist von »Visueller Poesie« die Rede, womit auch angedeutet wird, wie aus den anfänglichen »Schriftbildern« der Konkreten durch neue Verfahren und Techniken die heutigen, oft multimedialen Text-Bildvisualisierungen wurden.  Auf den ersten Blick scheint dies ziemlich weit entfernt zu sein von der »konkreten« Gestaltungspraxis eines Grafikdesigners. — Aber: Gerade die Konkrete Poesie zeigt, welche Möglichkeiten in der Visualisierung von Schrift und damit in der Schaffung neuer Konstellationen von Sprache liegen und welche Rolle diese in einer anspruchsvollen visuellen Kommunikation spielen können. Gerade der Ansatz Gomringers und der Konkreten Poesie, lyrische Arbeit nicht (nur) als Suche nach tiefgründigem Sprachsinn zu verstehen, sondern auch als grenzüberschreitendes und raffiniertes Jonglieren mit Schrift und Schriftbildern, ist für GrafikdesignerInnen und TypografInnen essenziell und findet sich in unzähligen Arbeiten im Bereich visueller Kommunikation.

Tiroler Tageszeitung
© Tiroler Tageszeitung

Eugen Gomringer, geboren 1925 in Bolivien, studierte Nationalökonomie und Kunstgeschichte in Bern und Rom. Gomringer gilt als »Vater« der Konkreten Poesie, einer literarischen Strömung, die verwandt ist mit der Konkreten Malerei etwa eines Max Bill, dessen Sekretär er von 1954 bis 1957 an der Hochschule für Gestaltung Ulm war. 1953 gründete er mit Dieter Roth und Marcel Wyss die Zeitschrift Spirale und gab von 1960 bis 1965 die Buchreihe konkrete poesie — poesia concreta heraus. Von 1961 bis 1967 war er Leiter des Schweizerischen Werkbundes. Von 1967 bis 1985 leitete er den Kulturbeirat der Rosenthal AG in Selb. Von 1977 bis 1990 lehrte er überdies als Professor für Theorie der Ästhetik an der Staatlichen Kunstakademie Düsseldorf. Er war 1966 bis 1968 Mitglied des documenta-Rates zur 4. documenta im Jahr 1968 in Kassel. 1986 hatte er eine Gastprofessur für Poetik in Bamberg und wurde 1988 Intendant des Internationalen Forums für Gestaltung in Ulm. Seit 1971 ist er Mitglied der Berliner Akademie der Künste. 2000 gründete er das Institut für Konstruktive Kunst und Konkrete Poesie (IKKP) an seinem langjährigen Wohnort, dem oberfränkischen Rehau. Seine Sammlung bildete den Grundstock für das 1992 eröffnete »Museum für Konkrete Kunst« in Ingolstadt. Als einer der wichtigsten Theoretiker des »Konkreten« hat er aber viele programmatische Schriften verfasst und über das Werk von Künstlern wie Josef Albers, Marcello Morandini oder Rupprecht Geiger geschrieben. Zahlreiche Preise und Auszeichnungen. Gomringer schreibt in Deutsch, Schweizerdeutsch, Spanisch, Französisch und Englisch.

Weiterführende Links
Kunsthaus Rehau
Blog über Visuelle Poesie
Eugen Gomringer im Interview mit Edith Schlocker (Tiroler Tageszeitung)

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